DEMOKRATIE – Gedanken zu Theorie und Praxis

Dieser Beitrag ist in der Jubiläumsausgabe 20 Jahre ANSTOSS 2014 veröffentlicht worden und wurde von Dietmar Köhler verfasst.

ANSTOSS ist die Zeitung des Vereins zum Alten Eisen, ein Verein von und für arbeitslose Menschen in Österreich, der inzwischen 20 Jahre lang aktiv ist.

Albert Einstein: Du hast erst dann etwas richtig verstanden, wenn Du es Deiner Großmutter erklären kannst.

Auf die Frage „Wer herrscht?“ gibt es drei Antworten:

  • EINE/R: Monarchie
  • MEHRERE: Oligarchie
  • ALLE: Demokratie

Wobei Herrschaft als Prozess verstanden wird, der input, processing und output, sowie monitoring und feed-back umfasst.

Die „Qualität“ von Demokratie lediglich an den Ergebnissen (output) zu messen greift zu kurz.

Zwei wichtige Fragen sind für eine Demokratie zu beantworten:

  1. wer gehört zum demos? (Zugangsbarrieren sind meist ein Zeichen fehlender Demokratie)
  2. wie herrscht der demos? Hat der demos „das letzte Wort“? [★ ABROMEIT, Dr. Heidrun (Prof. TU Darmstadt; Vortrag im Renner-Institut am 15.3.01):
    – wer sind Hauptakteure im gesamtstaatlichen (bzw. supra-staatlichen) Entscheidungssystem und vor allem: bei wem liegt die Letztentscheidung;
    – wie verhält sich das Entscbeidungssystem zur Gesellschaftsstruktur;
    – welche Rolle spielt das Volk?]
Übersicht Demoratie

Auch wenn Zugangsbarrieren in vielen Staaten weitgehend abgebaut wurden ist festzuhalten, dass es sich dabei nur um den Zugang zu Wahlen (aktives Wahlrecht) handelt. Wobei Wahlen mangels Mitsprache der Wahlberechtigten [★ANONYM (zit in: Demokratie im Fadenkreuz): Die, die wir gewählt haben, haben keine Macht. Und die, die die Macht haben, haben wir nicht gewählt.]

bei der Auswahl der Kandidat/innen [★BERLUSCONI Silvio (Ital. MinPräs.; DER STANDARD 28.11.09): Unsere Partei entscheidet mehrheitlich und wer sich nicht anpasst muss gehen.]

eher als mehr oder weniger erfolgreiche [★Nach den Wahlen zum EU-Parlament 2009 feierte Josef Pröll einen großartigen Sieg der ÖVP. Tatsächlich hatten aber 86,5% die ÖVP NICHT gewählt.]

Akklamationsveranstaltungen [★KELLER Helen (Brief v. 1911; zit. in Howard ZINN: Eine Geschichte des Amerikanischen Volkes): Unsere Demokratie existiert nur dem Namen nach. Wir wählen? Was heisst das schon? Es bedeutet, dass wir zwischen zwei Organen echter, wenn auch nicht so genannter Autokraten wählen. Wir entscheiden zwischen Tweedledum und Tweedledee …]

bezeichnet werden können (DEMOKROTOS: Das Volk klatscht Beifall).

Die Zugangshürden zum passiven Wahlrecht sind noch immer äusserst hoch. Hier sind besonders Parteizugehörigkeit und materielle Ressourcen zu nennen. Im Jahr 2000 „kostete“ in den USA ein Senatssitz 7,720.000 $, ein Sitz im Repräsentantenhaus 840.000 $. [★ Center for Responsive Politics]

Gegner der direkten Demokratie haben immer wieder – und oft mit beträchtlicher Arroganz – auf mangelnde Urteilsfähigkeit, [★ BERNSTEIN Eduard (Gewerkschaftsdemokratie; p.144 in Robert Michels: Soziologie des Parteiwesens): Um den richtigen Moment zur Aktion zu wählen, gehört ein Überblick, den von den Einzelnen aus der Masse nur wenige haben werden, während die Mehrheit momentanen Eindrücken und Gefühlsregungen folgt.
SCHUMPETER J. A. (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie): So fällt der typische Bürger auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt.
HAMILTON Alexander (Letter to Gouverneur Morris, 19.5.1777; zit. In:John Dunn: Setting the People free): When the deliberative or judicial powers are vested wholly or partly in the collective body of people, you must expect error, confusion and instability. VASSILAKOU Maria (die GRÜNEN; DER STANDARD 15.10.2011) Verkehrspolitik ist ein Thema, bei dem direkte Demokratie an schwierige Grenzen stößt. Man muss die Bürger informieren und ihre Wünsche soweit als möglich berücksichtigen. Wenn man aber versucht, Verkehrspolitik mittels Volksbefragung zu machen – na dann Mahlzeit!]

schwankende Meinung [★ BERNSTEIN Eduard (Gewerkschaftsdemokratie; in: Robert Michels: Soziologie des Parteiwesens): Bebel meint: die Führer hätten den Massen zu folgen. Ich bin nicht dieser Ansicht. … Wir dürfen uns eben nicht abhängig machen von zeitweiligen Strömungen.]

und angebliche Gewaltausbrüche (Mob) [★ THURNHER Armin (Hg.,FALTER 28/00): … ist daran zu erinnern,dass die repräsentative Demokratie genau deswegen errichtet wurde, um den Mob davon abzuhalten, zu regieren. Der Zug zur Verherrlichung der direkten Demokratie ist gelebte Verhaiderung. MADISON James (zit. in: Carl J. Richard: The Founders and the Classics; s.a. Federalist Nr. 55): In all very numerous assemblies, of whatever character composed, passion never fails to wrest the scepter from reason. Had every Athenian citizen been a Socrates, every Athenian assembly would still have been a mob.]

des demos verwiesen. Und sie stehen mit ihren Lobpreisungen [★ Um 1770 waren in einer Taverne, genannt „The Four Alls“, in Philadelphia (der Bundeskongress tagte!), an den Wänden vier Bilder zu sehen: A king with the motto “I govern all”, a general with the motto “I fight for all”, a minister labelled “I pray for all”, and a labourer with the legend “I pay for all”. (in PHILLIPS Kevin: Wealth & Democracy)]

von weisen, unbestechlichen und selbstlosen Männern (!) [★ The FEDERALIST PAPERS Nr. 10 (James Madison): …, to refine and enlarge the public views, by passing them through the medium of a chosen body of citizens, whose wisdom may best discern the true interest of their country, and whose patriotism and love of justice will be least likely to sacrifice it to temporary or partial considerations.
CONSTITUIERENDE NATIONALVERSAMMLUNG zu Frankfurt am Main 1848; stenographischer Bericht über die Verhandlungen; Abg. WAITZ/Liberale (zit. in: Inklusion und Partizipation; campus 2005): Keine Staatsordnung, möge sie sein wie sie wolle, monarchisch oder republikanisch, wird bestehen oder doch zu irgendeiner Stetigkeit gelangen können, wenn die Entscheidung aller politischen Fragen in die Hände der grossen Masse, die sich nur zu oft willenlos leiten lässt und launenhaft Tag um Tag dem einen oder anderen Führer folgt, gelegt wird.]

in einer Tradition, die bis vor Platon zurückreicht. [★ PSEUDO-XENOPHON (zit in Ober: Political Dissent in Democratic Athens): … everywhere on earth the better class of people is opposed to democracy. … Because among the best people there is a minimum wantonness and injustice but a maximum of scrupulous care for what is good, whereas among the common people (ho demos) there is a maximum of ignorance, disorder, and wickedness; for poverty draws them rather into disgraceful actions, and because of lack of money some men are characterized by lack of cultural education (apaideusia) and simple ignorance (amathia).
JEFFERSON Thomas (3. US-Präsident; Brief an John Adams v. 28.10.1813; zit in: Schätzel: Der Staat): Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass es unter Menschen eine natürliche Aristokratie gibt. … Sie berechtigt zur Erziehung, zu Vertrauensstellungen und zum Regieren der Gesellschaft.]

Eine historische Betrachtung lässt allerdings eher auf das Gegenteil schließen. Aus einer Fülle von Beispielen fällt besonders die Machtergreifung der NSDAP ins Auge: Adolf Hitler wurde nicht aufgrund einer Volksabstimmung oder von Wahlen (bei den Wahlen zum 7.Reichstag am 6.11.1932 erreichte die NSDAP eine Zustimmung von 26,4%)Reichskanzler, sondern aufgrund der Intrigen von Parlamentsabgeordneten.

Tatsache ist, dass die Stimmberechtigten in ihrer Gesamtheit oft bessere Resultate erreicht haben, [★ ARISTOTELES (Politik) 1281b: Denn die Menge, von der der einzelne kein tüchtiger Mann ist, scheint doch in ihrer Gesamtheit besser sein zu können als jene Besten;
… Denn es sind viele, und jeder hat einen Teil an Tugenden und Einsichten.
… Denn wenn sie alle zusammenkommen, haben sie genügend Verstand, und wenn sie mit Besseren zusammen sind, so nützen sie dem Staate, …
1282a15: ..; ausserdem urteilt wohl nicht immer der Verfertiger allein und am besten, nämlich dort, wo auch Nichtfachleute die Leistungen beurteilen können: ein Haus kann nicht nur der Baumeister beurteilen, sondern noch besser der, der in ihm zu wohnen hat, also der Hausherr; ein Steuerruder beurteilt der Steuermann besser als der Schreiner und ein Essen der Gast besser als der
PSEUDO-ARISTOTELES (zit in Ober: Political Dissent in Democratic Athens): And even the judgements of the boule are referred back to the demos. And in this (kai touto) they seem to act correctly (orthos), since the few are more easily corrupted than are hoi polloi, both by the prospect of gain (kerdos) and by considerations of reciprocal gratitude.]

als ihre „Repräsentant/innen“. [★ POPPER Karl (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1): Ich neige zu der Ansicht, dass Herrscher sich moralisch oder intellektuell selten über und oft unter dem Durchschnitt befanden.
HERZOG Roman (ehemaliger deutscher BPräsident in: Jung, Knemeyer: Direkte Demokratie): …keine Garantie dafür, dass das Volk dümmer ist, als seine Ministerialräte und seine Abgeordneten.]

Was übrigens keine Abwertung von „repräsentativer Demokratie“ bedeutet, so lange die dazu gehörigen Bedingungen (imperatives Mandat, [★ BESCHLUSS der Bezirksgemeinde Pfäffikon v. 30.9.1833 (zit. in: ADLER: Die Entstehung der direkten Demokratie): (p.144) 4) Endlich soll unser Verfassungsrathsmitglied genau nach seiner Instruktion handeln, und sich angelegen seyn lassen, dass diese (die oben aufgezählten) Punkte in die Verfassung aufgenommen werden; im unterlassenden Fall ist dasselbe dafür verantwortlich und strafbar.
BURCKHART Conrad (Regenten- und Underthanen-Spiegel 1699; in Thomas Maissen: Die Geburt der Republic): Wir haben unsere Regenten und Oberen auß uns selbs, und haben selbs gewalt, sie zusetzen, ja auch wider abzusetzen, da sie sich nicht recht verhalten wurden.
GRAWPÜNDTNERISCHE Handlungen deß M.DC.XVIII jahrs, … (zit in: Head: Early modern democracy in the Grisons): Die form unsers Regiments ist Democratisch: uns stehet die erwellung unnd entsetzung der Obrigkeiten / allerley Amptleüten / Richtern und Befelchshabern / so wol in unsern befreyten und herrschenden Landen / als auch uber die / so uns unterthenig sind / bey unserem gemeinen man: welcher macht hat / dem mehreren nach / Landtsatzungen zu machen / und wider abzuthun / Pündtnussen mit frömbden Fürsten und Stenden aufzurichten / uber Krieg und frid zu disponieren / und alle andere der hohen und minder Oberkeit gebürende sachen zuverhandeln.]

Abberufung, [★ SCHREIBEN der 5 Orte an das französische Direktorium v. 5.4.1798 (zit. in: ADLER: Die Entstehung der direkten Demokratie): …, kein Joch druckt unsere nacken als das süse Joch der gesätzen – die wir uns auferlegen. … Wir das gesammte Volck dieser Länder … sezen und entsezen … nach unser Willkuhr unsre Vorgesetzte – die Abtheilungen unser Kantone erwählen unsre Räthe; … SCHUMACHER Joseph Anton (Series facti, 1729; in Thomas Maissen: Die Geburt der Republic): Status Democraticus, oder die Regiments-Form des gemeinen Mannes ist also beschaffen: dass ihme eygenthumlich zustehndig ist der höchst- u. größte Gewalt … Hat also der gemeine Mann die freyheit und Gewalt, …, die Obrigkeit selbsten aus seinen eigenen Mitteln und Glideren zu setzen, auch mit oder ohne Ursache dieselbe wiedrum zu entsetzen.]

Amtszeitbegrenzung [★ PROTOKOLL der Bezirksgemeinde Schwyz v. 3.11.1833 (zit. in: ADLER: Die Entstehung der direkten Demokratie): (Die Gemeinde entschied) mit grosser Mehrheit …: dass die heute zu vergebenden Ämter nicht länger dauern sollen, als bis zur nächsten ordentlichen Frühlingsgemeinde.
WINSTANLEY Gerrard (17.Jhdt.; Gleichheit im Reiche der Freiheit; Reclam 1983): .. Alle Vorsteher und Beamten des Staates sollen jährlich neu gewählt werden, um das Aufkommen von Ehrsucht und Habgier zu verhindern, …]

und Rotation) [★ EURIPIDES (Die Hilfeflehenden; aufgeführt um 425??v.u.Z) Theseus: Denn hier gebietet nicht ein einzelner; die Stadt ist frei. Die Bürger selbst bekleiden Jahr um Jahr der Reihe nach die Ämter, wobei sie nicht dem Reichtum einen Vorrang geben, nein, auch der Arme gleiches Recht genießen darf.
ARISTOTELES (Politik) VI 1317b: Zur Freiheit gehört aber erstens, dass man abwechselnd regiert und regiert wird. …Von daher kommt denn, dass man sich nicht regieren lässt, am besten von überhaupt niemandem, oder dann doch nur abwechslungsweise. …, so ergibt sich das Folgende als demokratisch: alle Ämter werden aus allen besetzt, alle herrschen über jeden und jeder abwechslungsweise über alle. Ferner werden die Ämter durch Los besetzt, entweder alle oder doch jene, die nicht der Erfahrung oder Kenntnisse bedürfen. … Keiner darf ein Amt zweimal bekleiden, oder nur wenige Male oder in wenigen Fällen, abgesehen von den Kriegsämtern. Die Ämter sind alle kurzfristig, oder doch alle, bei denen es möglich ist. Richter sind alle und können aus allen entnommen werden und richten über alles oder doch über das Meiste, Grösste und Bedeutendste, … bei den Ämtern gilt, dass keines lebenslänglich sein darf.
1332b: …notwendig, dass alle in gleicher Weise abwechselnd regieren und regiert werden.]

erfüllt sind.

EXKURS: Politische Parteien

Politische Parteien werden allgemein als für eine Demokratie unentbehrlich betrachtet. Sie sollen die Wünsche und Ansichten der Stimmberechtigten bündeln und programmatisch zur Geltung bringen. Das setzt allerdings voraus, dass diese Parteien selbst demokratisch verfasst sind.

Dazu unmissverständlich einer der Väter der Österreichischen Bundesverfassung (Allgemeine Staatslehre) Hans KELSEN: Wird die politische Partei zu einem entscheidenden Faktor im Prozesse der staatlichen Willensbildung, dann liegt es nahe, die Organisation der Partei unter diesem Gesichtspunkt gesetzlich zu regeln, insbesondere dafür Sorge zu tragen, dass innerhalb der Partei selbst der Grundsatz demokratischer Kontrolle gewahrt bleibe, und die – gerade beim System der Proportionalität so oft beklagte – Diktatur der Parteiführer möglichst eingeschränkt werde.“

Auf die dem Parteienwesen inhärenten Gefahren hatte ja schon 1882 Wenzel SCHOBER hingewiesen: Bei unserer jetzigen Parteienwirthschaft werden alle wichtigen Fragen, welche im Parlament zur Entscheidung kommen sollen, vorher bei den Parteiversammlungen entschieden. Und solche Entscheidungen sind dann für die Parteimitglieder … bindend. . … Entscheidung wurde bereits nach Anhörung der stärksten Partei getroffen, und da jedes Mitglied derselben es als erste Pflicht der Parteidisciplin betrachtet, überzeugungstreu zu bleiben, so wird der Beschluß der Partei zum Gesetz erhoben. … Eine Parteiwirthschaft ist ohne Parteidisciplin nicht denkbar. Die Parteidisciplin aber heißt Terrorismus. In jeder Partei entwickelt sich eine militärische Organisation, deren Resultat darin besteht, dass ein Haupt- und einige Unterführer das ausschließliche Bestimmungsrecht an sich reißen, und den übrigen Angeführten nur die Pflicht erübrigt, an einer commandierten Überzeugung überzeugungstreu, das heißt blind, festzuhalten.“ [★ SCHOBER Wenzel (Die Noth und ihre Ursachen, 3 Teile, Wien 1880-1882)]

Wenig Beachtung widmen in diesem Zusammenhang die im Parlament vertretenen Parteien ihren eigenen Grundsatzprogrammen, die eindeutige Passagen zur Frage der Mitentscheidung des demos enthalten. [★ SPÖ-Grundsatzprogramm II.2.2: …dafür ein, dass alle Menschen das Recht darauf haben, bei Entscheidungen, die sie betreffen, mitzubestimmen und dass das Prinzip der Demokratie in allen gesellschaftlichen Bereichen verwirklicht wird…..
III.7.5 Wir setzen uns für eine Erweiterung demokratischer Rechte ein, durch die mehr Bürger und Bürgerinnen bei sie unmittelbar betreffenden Fragen kontrollieren, mitwirken bzw. mitentscheiden können.
ÖVP-Grundsatzprogramm „Wir wollen, daß die Bürger an den politischen Vorgängen, die ihr Leben bestimmen, teilnehmen. … Lebendige Demokratie bedarf der Mitwirkung der Bürger an der öffentlichen Diskussion und an politischen Entscheidungen. … Der demokratische Staat ist auf die Mitwirkung seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen.“
Grundsatzprogramm der GRÜNEN Demokratie bedeutet die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Entscheidungsprozessen auf möglichst vielen Ebenen. … Demokratie bedeutet also mehr, als bei Wahlen den Stimmzettel abzugeben. … Die Erfahrung lehrt, dass sachgerechte Lösungen üblicherweise am besten und kostengünstigsten gefunden werden, wenn jene Gruppen, die vom fraglichen Problem besonders betroffen sind, von Anfang an in die Lösungsfindung eingebunden sind.]

Resultat: Die Verlängerung der Legislaturperiode ohne Information – geschweige denn Mitbestimmung – der Wahlberechtigten. Eine zutiefst undemokratische Vorgangsweise, auch wenn formal eine Zweidrittel-Mehrheit der Abgeordneten für die Verfassungsänderung ausreichend war. Denn: Nicht alles was legal ist, ist auch demokratisch legitimiert.

Der ÖVP-Abgeordnete Ferdinand Maier hat das Demokratieverständnis seiner Partei auf den Punkt gebracht: „Hände falten, Goschen halten.“

Ähnlich der Klubobmann der SPÖ im Wiener Rathaus, Rudolf Schicker, in seiner Bemühung, einen Parteitagsbeschluss zu ignorieren: „Zurück in die Verhandlungsstube und Tür zu.“ [★ DER STANDARD v. 9.9.2011]

Damit das Volk (der Souverän) seinen Repräsentant/innen nicht zu nahe kommt, hat sich eine – demokratisch NICHT legitimierte – Internetplattform gebildet, die für Anfragen an Abgeordnete als Filter dient. Auf althergebrachte, paternalistische Oberlehrerart wird der Souverän in Fällen, die von meinparlament.at definiert sind, zensuriert. [★ Nicht freigeschaltet werden insbesondere (Auszug):
– Fragen, die unter eine berufliche Schweigepflicht fallen
– Beiträge, die keiner Frage oder Aufforderung zur Stellungnahme entsprechen, sondern nur bloße Meinungsäußerung sind
– Massenmails
– unangemessen viele Fragen pro Fragesteller/in oder Abgeordneten – mehrere Nachfragen, in der Regel mehr als eine
– Fragen mit falschem Namen und/oder falscher e-mail-Anschrift]

Aus Anlass der „Minarett-Volksabstimmung“ in der Schweiz ist auch auf die Grenzen von direkter und repräsentativer Demokratie zu verweisen:

Es gilt, dass Entscheidungen in demokratisch verfassten Gemeinwesen nicht den Menschenrechtskonventionen zuwider laufen dürfen. Letztere bilden das Fundament, auf dem Demokratie aufzubauen ist. Die tragenden Säulen bilden direkte und repräsentative Elemente unter Berücksichtigung des Rotationsprinzips (Amtszeitbegrenzung, Abberufung, Wahlen/Losverfahren).

Gliederung Demokratie

Vor allem aber sind Voraussetzungen zu erfüllen, die eine sinnvolle Beschäftigung mit demokratischer Politik überhaupt erst ermöglichen: Die Sicherung eines menschenwürdigen Lebens

[★ Siehe dazu die Texte der Menschenrechtskonventionen, insbesondere die Europäische Sozialcharta
HUMAN DEVELOPMENT REPORT 2002: … Society must be committed to meeting the basic needs of the most disadvantaged groups to ensure their participation in the workings of democracy.
AMBEDKAR B. R. (Valerian Rodrigues: The Essential Writings of B. R. Ambedkar; Oxford Uni Press 2002)
(p.62): … political democracy cannot succeed where there is no social and economic democracy. …
BERG-SCHLOSSER Dirk/STAMMEN Theo (Einführung in die Politikwissenschaft/C.H.Beck): Zu den wichtigsten gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine funktionsfähige Demokratie gehört eine relativ egalitäre Sozialstruktur.
BUTTERWEGGE Christoph (Prof. Uni Köln; e-mai v. 9.8.06): Damit die Demokratie in einer (fast) alle befriedigenden Weise funktionieren kann, bedarf sie wohlfahrtsstaatlicher Fundamente.
DAHL Robert A. (zit. in: Axtmann: Democracy – Problems and Perspectives, p.112): …the inequalities in resources that market-capitalism churns out produces serious political inequalities among citizens.
FRAZER Nancy (in: Citizens without shelter): … democracy today requires both economic redistribution and multicultural recognition.
ROOSEVELT Theodor (um ca 1912??;zit.in: Schools of Democracy): No man can be a good citizen unless he has a wage more than sufficient to cover the bare costs of living, and hours of labor short enough so that after his day´s work is done he will have time and energy to bear his share of the management of the community, to help in carrying the general load.]

in der Gemeinschaft. Die „unsichtbare Hand des Marktes“ [★ PHILLIPS Kevin (Wealth & Democracy; Broadway Books 2002): … economic version of Handel’s Messiah: The market and the people are one and the same. Hallelujah. Buying, selling and consuming is true democracy. Hallelujah. Popular will is expressed through the law of supply and demand. Hallelujah. Populism is market economics. Hallelujah. Opposition to the verdict of the market is elitism. Hallelujah. The Nations and Peoples shall rejoice. Hallelujah, Hallelujah.]

zeigt sich in diesem Zusammenhang als eine der höchsten Barrieren für demokratische Politik.

 

EXKURS: Partizipation und Ressourcen

Um auch ärmeren Bürgern eine Teilnahme an Volksversammlungen und Volksgerichten zu ermöglichen, führten die Athener im 4. Jahrhundert v.u.Z. Diäten (misthos) ein. Die Höhe dieser Taggelder entsprach in etwa dem Einkommen aus entgangener Beschäftigung, war also eine Entschädigung für Verdienstentgang. [★HANSEN Mogens Herman (Die Athenische Demokratie im Zeitalter des Demosthenes)]

Auch wenn sich die ökonomischen Verhältnisse heute wesentlich anders darstellen ist nicht zu leugnen, dass Personen mit geringem Einkommen weder Zeit noch genügend Geld haben, sich mit Politik zu beschäftigen – Information und Kommunikation sind nicht gratis!

Unter Bezugnahme auf die Menschenrechtskonventionen wäre dem leicht abzuhelfen: Mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, das repressionsfrei ein menschenwürdiges – wenn auch nicht üppiges – Leben garantiert.

Die Forderung des UN-Komitees für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (E/C.12/AUT/CO/3 v. 25. 1. 2006) ist unmissverständlich: „The Committee recommends to the State party, in its efforts to combat poverty, to strengthen its support for families with many children and to consider introducing a minimum guaranteed income for everyone without a sufficient source of income.”

Eine “bedarfsorientierte Mindestsicherung” erfüllt diese Bedingungen in keiner Weise.

 

Unwissenheit oder Absicht?

Vor diesem schier unlösbaren Rätsel steht man, wenn man – auch in der „Fachliteratur“ – auf semantischen Wirrwarr stößt: Von „Wahldemokratie“ ist da die Rede; [★ Raffael FISCHER: Die Vermessung der Demokratie – ein Befund (in: Demokratie in Gefahr?)
Volker MITTENDORF: Die Qualität kollektiver Entscheidungen]

von „cisleithanischer Demokratie“ und „Honoratiorendemokratie“; [★ Pof. Hanns HAAS: 1866 – Krieg und Konstitutionalismus (in: Von Lier nach Brüssel; Studienverlag 2010)]

von „Spendendemokratie“; [★ Prof. Andreas KHOL (ÖVP; in PROFIL 30/99)]

von einem „demokratisch legitimierten Cäsar“; [★ EU-Abgeordnete Ursula STENZEL (FALTER 21/01)]

von „Karenzdemokratie“; [★ Andreas RUDAS (SPÖ; DER STANDARD 14.8.199)]

von„entpolitisierter Demokratie“ [★ Thomas ASSHEUER (25.5.2000 bei der Buchpräsentation „Was wird aus der Demokratie?“)]

und „Führerdemokratie“; [★ ASSHEUER, PERGER: Was wird aus der Demokratie?]

von „autoritären Demokratien“; [★ Walter BRAUN (WIENER JOURNAL 192)]

von „Teledemokratie, Cyberdemokratie.. ..Parteiendemokratie…Mediendemokratie“; [★ Prof. Peter FILZMAIER (Politisches Alltagsverständnis)]

besonders verbreitet ist der Hinweis auf den „Missbrauch direkter Demokratei“. [★ pars pro toto: Prof. Rudolf BURGER (Friedensforum Juni 2007)]

Erschütternd einfältig auch ein Verein, der die „Bürger als 4. Säule der Demokratie“ etablieren will. [★ Verein zur Etablierung des Bürgers als 4. Säule der Demokratie (flyer v. September 2011)]

Und immer wieder melden sich in Österreich (Ex-)Politiker/innen zu Wort, die ein Mehrheitswahlrecht fordern, das angeblich minderheitenfreundlich gestaltet werden kann. [★ z.B: Herwig Hösele und die „Initiative Mehrheitswahlrecht“; Erhard Busek und „Mein Österreich“]

Bei Licht betrachtet – und unter Zuhilfenahme der Grundrechnungsarten – stellt sich allerdings heraus, dass damit die Herrschaft einer Minderheit über eine Mehrheit ermöglicht werden soll. [★Annahme: 101 Abgeordnete (Mehrheit: 51); 10.000 Stimmen je Mandat; 3 Parteien (A, B, C)]

Eine Abweichung von der proportionalen Verteilung der Mandate verletzt nämlich immer die Gleichgewichtung der Stimmen. Fazit: Ein Mehrheitswahlrecht ist IMMER undemokratisch.

Da dürfen auch verwirrende Kommentare in Medien nicht fehlen. „Basisdemokratie ist das Gegenteil von Demokratie“; [★ Hans Rauscher, DER STANDARD-Printausgabe, 4./5. 9. 2010]

„Immerhin hätte eine solche nationale Notstandsregierung auch eine gewisse Legitimation. Und sei es nur durch den extremen Notstand selbst; [★ DER STANDARD Printausgabe, 4.11.2011]

„Die Idee eine verpflichtenden Volksbefragung ist demokratiepolitische Unfug“; [★ Hans Rauscher, DER STANDARD, 11./12.5.2013]

Moralisch tadellose Mächtige gesucht“; [★ Martina Salomon, KURIER, 18.2.2012]

„Dabei wär’s am populärsten, würde wieder gute Politik gemacht. Und die muss manchmal sogar eine gegen die Mehrheitsmeinung des Volkes sein“; [★ Andreas Schwarz, KURIER, 12.6.2012]

„Die Politik ist nicht reif für mehr Bürgerwillen“. [★ KURIER, 18.7.2012]
Lustiger ist da nur mehr das Orakel von Delphi.

 

Zusammenfassend:

IN EINER DEMOKRATIE HABEN DIE STIMMBERECHTIGTEN DAS ERSTE UND DAS LETZTE WORT – sofern sie das wollen.

EXPERTEN sind als Berater des demos willkommen – Entscheidungen werden vom demos getroffen.

TECHNOKRATEN (wörtlich: die mittels List herrschen) sind der natürliche Feind von DEMOKRATEN.

DEMOPSEPHIE („das Volk wählt“) kann ein wichtiger Bestandteil einer DEMOKRATIE („das Volk herrscht“) sein – mehr nicht.

MERKSATZ: Für Berufspolitiker/innen ist immer dann die Demokratie am meisten gefährdet, wenn die BürgerInnen beginnen, ihre Nasen in ihre eigenen Angelegenheiten zu stecken.

MERKSATZ: Dilettierende Wirtschaftsbosse fürchten demokratische Umtriebe wie der Teufel das Weihwasser.